Familie I Seit einem halben Jahr warte ich darauf, meinen neuen Freund der zwei Autostunden entfernt wohnenden – also wortwörtlich meiner weiteren - Verwandtschaft vorzustellen. Da weder er noch ich ein Auto und schon gar keinen Führerschein besitzen, sind wir von meiner autofahrenden Mutter und der restlichen engeren Familie (ein kleiner Bruder, eine noch kleinere Halbschwester und ein in einem Hotel arbeitender Stiefvater) abhängig. Klingt nach Komplikationen. Und die gibt es auch, sobald nur einer von uns das Thema „Verwandtschaft besuchen“ anspricht. Das sieht dann so aus: „Mama, wann fahren wir wieder mal runter?“ „Naja, nächstes Wochenende müsste gehen. Schau’n wir mal.“ Der Kalender wird zu Rate gezogen. Stiefvater betritt den Raum. „Was habt ihr denn vor? Ach ja, nächstes Wochenende muss ich arbeiten, wir haben volles Haus.“ „Na super!“ „Gut, dann fahren wir eben übernächstes!“ Stiefvater: „Runter fahren? Bei meinen Eltern können wir aber nicht übernachten, da ist meine Schwester zu Besuch und sie renovieren.“ „Mama, was ist mit Oma, können wir da schlafen?“ „Die müssen wir anrufen.“ Mutter beginnt, das Schnurlostelefon zu suchen und findet es schließlich neben dem Fernseher. Die Fernbedienung schwimmt im Aquarium. (Aber das ist eine andere Geschichte.) Nach einem längeren Gespräch mit meiner Oma mütterlicherseits ( „Nein wirklich, die ist schon wieder krank! Und Tante Valium haben sie eingeliefert! Nein, das hat er wirklich getan? ...“ ) ist das Übernachtungsproblem gelöst. Inzwischen hat sich auch mein kleiner Bruder zum Familienrat gesellt und ergreift das Wort. „Geht nicht, übernächstes Wochenende ist Pfarrheuriger, da müssen wir ja helfen.“ „Und das Wochenende drauf sind wir bei Tante Elfi eingeladen.“ „Dann haben wir einen Auftritt mit dem Kirchenchor, eine Woche später das Benefizkonzert, dann ist die Feier, wo ich für’s Buffet verantwortlich bin, da musst du wieder arbeiten, ...“ Nach etwa einer Stunde Beratung haben wir endlich einen Termin gefunden: den 24.Dezember. Aber ich glaube, da ist mein Freund bei seinen Eltern.
Familie II Aber auf einen anderen Termin haben wir uns dann doch noch geeinigt – und an dem haben wir alles andere abgesagt, um zur Familie fahren zu können: den 19.Juni. Da war nämlich die Geburtstagsfeier zum 85er von meiner liebsten Uromi angesetzt. Das heißt: Familienfest und andere Katastrophen. Die erste Katastrophe überfiel uns schon am Tag vor der Abreise. Auf offiziellen Befehl meiner Mutter hin sollte alles eingepackt und die Wohnung geputzt werden, da diese dann in unserer Abwesenheit zumindest zwei Tage lang sauber bleiben würde. Hätte ein Fremder unsere Wohnung an diesem Tag betreten, so wäre er zuerst über drei sorgfältig zusammengerollte und direkt vor der Tür platzierte Teppiche gestolpert. Er hätte - um auf sich aufmerksam zu machen - einen auf Höchstleistung aufgemotzten Staubsauger, eine heulende kleine Schwester - deren Barbie-Puppe soeben von diesem Gerät verschlungen wurde - eine mit voller Lautstärke Grunge-Musik dröhnende Stereoanlage und eine schluchzende Mutter übertönen müssen. Nach Überwindung des aus leeren und vollen Putz- und Mistkübeln, Besen, einer Leiter, dem Heizstrahler und dem Klobesen aufgebauten Hindernisparcours im Flur hätte er in der Küche eine übel gelaunte, zum Abwaschen verdonnerte große Schwester angetroffen. Das Wohnzimmer hätte er nicht mehr als solches wiedererkannt, da sämtliche Sitzgelegenheiten reglos und alle Viere in die Luft gestreckt auf den beiden Schreibtischen aufgestapelt waren und das Wasser aus dem umgestoßenen Putzkübel die Blumenecke in ein dem Amazonasufer ähnliches Gebiet verwandelt hatte. Spätestens nach einem Blick in das Schlafzimmer, in dem sämtliche Kleidungsstücke aus den Schränken, sowie diverse Spielsachen, Geschenke und Lebensmittel auf dem Doppelbett und dem Boden verteilt waren, hätte er das Jugendamt informiert. Etwa zwei Stunden nach Beginn der Putzaktion hatte sich die Lage aber wieder beruhigt: die Barbie-Puppe war befreit (das Kleid hatte der Staubsauger zwar behalten, aber aus einem Halstuch war schnell ein anderes gemacht), die Mutter schluchzte nur noch alle zwei Minuten während sie über dem Nudelwasser meditierte, die Stereoanlage hatte nach einem Knall ihr kurzes Leben ausgehaucht, die große Schwester war noch immer schlechter Laune, weil sie den Tisch decken musste und der kleine Bruder versuchte, die letzten Spuren der Überschwemmung im nun wieder identifizierbaren Wohnzimmer zu beseitigen. Auch Kleider, Geschenke, Spielzeug und was sonst noch im Schlafzimmer zum Einpacken bereit gelegen hatte, war in diversen Schachteln, Taschen, Ruck- und sonstigen Säcken und im Wäschekorb verstaut. Am nächsten Tag musste also nur noch das Auto bepackt werden. Zuerst der Wäschekorb, dann die Kleidertasche, die Spielzeugtasche für die kleine Schwester, der Bücher-, Kassetten-, Walkman- und Taschentücherrucksack für den kleinen Bruder, die Schachtel mit den Geschenken, der Schuhsack, der Rucksack mit den Sachen der großen Schwester und ihres Freundes, die Tasche mit den Sachen der Eltern, ... „Wie lange fahren wir weg?“ „Zwei Tage. Geh und hol die drei Taschen die noch oben sind!“ Endlich war alles im Auto (übrigens ist es ein Kombi) verstaut. Man sah zwar beim Rückfenster nicht mehr hinaus und die große Schwester musste während der Fahrt eingeklemmt zwischen dem Beifahrersitz und dem Rücksitz auf dem Boden kauern (sie saßen zu sechst in einem Auto für fünf Personen), aber das alles hatte den Vorteil, dass das anschließende Familienfest dagegen durchaus erholsam wirkte.